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"Gastarbeit" in Deutschland

  • Autorenbild: Clara Ebinger
    Clara Ebinger
  • 21. Juli
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Juli

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Wenn es um Arbeitsmigrantinnen und -migranten geht, die in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren durch gezielte Anwerbeverfahren nach Deutschland kamen, wird häufig von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern gesprochen. Die Behörden verwendeten bereits damals den offiziellen Begriff „ausländische Arbeitnehmer“. In den Medien und der Umgangssprache setzte sich jedoch bald der Begriff „Gastarbeiter:innen“ durch.


Heute ist dieser Ausdruck umstritten. Das Wort „Gast“ betont den vorübergehenden Charakter des Aufenthalts und impliziert, dass die Arbeiter:innen Deutschland wieder verlassen würden. Viele der sogenannten „Gastarbeiter:innen“ entschieden sich jedoch, dauerhaft zu bleiben, und sind längst ein fester Teil der deutschen Gesellschaft geworden. Dennoch hält sich der Begriff bis heute – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Gesellschaft in Fragen von Zugehörigkeit und Anerkennung noch immer Nachholbedarf hat.


Wie kam es dazu, dass ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland angeworben wurden?

In den 50er Jahren bestand in Deutschland Arbeitskräftemangel. Zwar wuchs die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst stark an, da viele Geflüchtete und Vertriebene ins Land kamen. Doch im Laufe der 50er-Jahre verlangsamte sich dieser Zustrom enorm. Gleichzeitig erlebte die deutsche Wirtschaft einen starken Aufschwung: Die Industrie wuchs, neue Arbeitsplätze entstanden – und es fehlten zunehmend Arbeitskräfte.


Um diesem Mangel entgegenzuwirken, schloss die Bundesrepublik 1955 ein erstes Anwerbeabkommen ab – mit Italien. In den folgenden Jahren kamen viele italienische Arbeitsmigrant:innen nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Anfangs waren sie vor allem in Bereichen mit körperlich anspruchsvoller Arbeit beschäftigt, etwa auf dem Bau, im Straßenbau oder in der Industrie. Mit der Zeit gründeten viele von ihnen auch eigene Unternehmen.


Italien hatte zu diesem Zeitpunkt eine hohe Arbeitslosenquote. Die italienische Regierung sah darin die Chance, die Beschäftigung im eigenen Land zu steigern. Zudem versprach man sich wirtschaftliche Vorteile: Es wurde erwartet, dass die Arbeiter:innen einen großen Teil ihres in Deutschland verdienten Lohns in Italien investieren würden. 


Die im Rahmen der Anwerbeabkommen geschlossenen Arbeitsverträge waren zeitlich befristet. Damit sollte ein sogenanntes Rotationsprinzip umgesetzt werden: Nach Ablauf der Vertragszeit sollten die Arbeiter:innen in ihr Herkunftsland zurückkehren, während ihre Stellen durch neue Arbeitskräfte aus dem jeweiligen Partnerland ersetzt wurden.


Für die Arbeiter:innen gab es verschiedene Gründe, nach Deutschland zu kommen. Für viele war der deutlich höhere Lohn ein entscheidender Anreiz – häufig verbunden mit dem Ziel, Geld für ein bestimmtes Vorhaben zu sparen oder die eigene Familie besser unterstützen zu können. Auch Abenteuerlust und der Wunsch, neue Orte kennenzulernen, spielten eine Rolle. Besonders für viele Frauen bedeutete die Arbeit im Ausland die Möglichkeit, ihren Heimatort erstmals zu verlassen.


Nachdem das Abkommen mit Italien als erfolgreich bewertet wurde, folgte 1960 ein Doppel-Abkommen mit Spanien und Griechenland. Ein Jahr später, 1961, schloss die Bundesrepublik ein Anwerbeabkommen mit der Türkei. Da die Türkei kein Mitglied der Europäischen Gemeinschaft war, führten Vorurteile dazu, dass Arbeitsverträge mit türkischen Arbeitskräften zunächst auf ein Jahr befristet wurden. Diese Regelung erwies sich jedoch bald als unpraktikabel. 


Da weiterhin Arbeitskräfte benötigt wurden, folgten weitere Abkommen: 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal, 1965 mit Tunesien und 1968 mit Jugoslawien. Auch aus Südkorea, den Philippinen und aus Indien wurden Arbeitskräfte angeworben. Die Beweggründe für diese Abkommen ähnelten denen den Abkommens mit Italien: Die Herkunftsländer erhofften sich wirtschaftliche Vorteile durch die Beschäftigung ihrer Bürger:innen im Ausland. Die individuellen Motive der Arbeitsmigrant:innen waren auch  hier vielfältig – viele wollten durch den höheren Lohn ihre Familien unterstützen oder für bestimmte Ziele sparen, andere suchten neue Erfahrungen oder die Möglichkeit, ihre Lebensumstände zu verbessern. 


Ein Großteil der angeworbenen Arbeiter:innen war in körperlich anspruchsvollen Tätigkeiten in der Industrie beschäftigt. Frauen wurden besonders häufig im Niedriglohnsektor eingesetzt, etwa bei feinen manuellen Tätigkeiten in der industriellen Produktion. Viele von ihnen fanden zudem Arbeit im Gesundheitswesen und in der Pflege – Bereiche, in denen auch damals bereits ein erheblicher Fachkräftemangel herrschte.


1973 markierte das Ende der sogenannten „Gastarbeiterperiode“ in der Bundesrepublik Deutschland. Im Zuge der Ölkrise wuchs die Sorge vor einem Anstieg der Arbeitslosigkeit, gleichzeitig nahm die gesellschaftliche Debatte über eine vermeintliche „Überfremdung“ zu. Vor diesem Hintergrund wurden die Anwerbeabkommen nicht verlängert. 


Der sogenannte Anwerbestopp betraf vor allem Menschen aus Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaft – insbesondere türkische Arbeitskräfte. Trotzdem entschieden sich viele der angeworbenen Arbeitnehmer:innen, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Manche befürchteten, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland später nicht wieder einreisen zu dürfen. Da für viele der Aufenthalt nun nicht mehr nur zeitlich begrenzt war, holten sie ihre Familien nach Deutschland nach. Viele von ihnen sind bis heute geblieben. 


1973 war auch das Jahr der sogenannten „Wilden Streiks“. In ganz Deutschland protestierten ausländische Arbeitnehmer:innen gegen schlechte Arbeitsbedingungen und forderten höhere Löhne. Auslöser waren unter anderem Entlassungen türkischer Arbeiter:innen aus Gründen, die zuvor nicht zu Kündigungen führten, sowie die allgemeine Ungleichbehandlung von deutschen und ausländischen Beschäftigten. Die Streiks erfolgten ohne die Unterstützung der Gewerkschaften, da diese sich lange Zeit nicht als zuständig für die Belange ausländischer Arbeiter:innen sahen. Aus diesem Grund werden die Proteste als „wilde Streiks“ bezeichnet.


Zu den bekanntesten dieser Streiks zählen der Streik bei Ford in Köln und der Streik beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss. Ein erfolgreiches Beispiel sind die streikenden Frauen bei Pierburg: Sie setzten die Abschaffung der sogenannten „Leichtlohngruppe II“ durch – einer Lohngruppe, in der ausschließlich Frauen beschäftigt waren. Damit erreichten sie einen wichtigen Schritt in Richtung Lohngleichheit.


Auch in der DDR verlief die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in ähnlicher Weise. Vor allem in den 1970er-Jahren kamen sogenannte “Vertragsarbeiterinnen” und “Vertragsarbeiter” in die DDR. Diese stammten überwiegend aus sogenannten Bruderstaaten. Der erste entsprechende Vertrag wurde 1967 mit Ungarn geschlossen. Viele der angeworbenen Arbeitskräfte waren in der Textilindustrie tätig.


Ab 1971 folgten weitere Abkommen. Die meisten ausländischen Vertragsarbeiter:innen in der DDR kamen aus Vietnam, Polen, Kuba, Mosambik und Ungarn.


Vom Mauerfall besonders betroffen waren Arbeiter:innen aus Vietnam, Mosambik und Angola, die oft erst in den späten 1980er-Jahren in die DDR kamen. Für sie endete mit dem Fall der Mauer der Arbeitsvertrag und die damit verbundene Aufenthaltserlaubnis abrupt – ihre Zukunft war ungewiss. Einige der Arbeiter:innen wurden direkt abgeschoben, andere wiederum entschieden sich zu bleiben und bauten sich in Deutschland ein neues Leben auf.

Die Arbeitsmigration nach Deutschland endete natürlich nicht mit dem Anwerbestopp der 1970er-Jahre. Bis heute kommen Menschen nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Auch aktuell wird versucht, Zuwanderung durch staatliche Regelungen zu lenken – etwa durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Sollten Sie mehr über Migration erfahren wollen, schauen Sie gerne an der Station Migrationen vorbei.


Vor allem ist wichtig festzuhalten: Die ehemaligen sogenannten „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ – ein Begriff, der bis heute verwendet wird – waren nie bloß „Gäste“. Sie, ihre Kinder, Enkel und mittlerweile auch Urenkel leben weiterhin in Deutschland, auch hier in Stadtallendorf, und sind ein fester, unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft.


Die nächste Station auf der Route ist die Station Ferrero. Hier wird das Thema “Gastarbeit” in Stadtallendorf behandelt. Machen Sie sich gerne auf den Weg. Lassen Sie auf dem Weg auch die Gerüche, Geräusche und Anblicke auf sich wirken.


Quellen:

Bade, K.J. et al. (2010) Enzyklopädie Migration in Europa: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. 3. Auflage. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG.

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (2025) ‘Vertragsarbeiter’. Verfügbar unter: https://www.politische-bildung-brandenburg.de/lexikon/vertragsarbeiter (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Bundesministerum des Inneren (2025) ‘Arbeitsmigration’, Bundesministerum des Inneren. Verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/migration/zuwanderung/arbeitsmigration/arbeitsmigration-node.html (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (2025) ‘Völkerfreundschaft auf Abstand: Vertragsarbeit in der DDR’, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Verfügbar unter: https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/recherche/dossiers/voelkerfreundschaft-auf-abstand-vertragsarbeit-der-ddr (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Bundeszentrale für politische Bildung (2025) ‘Glossar Migration – Integration – Flucht & Asyl: Gastarbeiter’, Bundeszentrale für politische Bildung. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/glossar-migration-integration/270369/gastarbeiter/ (Zuletzt abgerufen: 15. Juli 2025).

Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (2025a) ‘Die unsichtbaren Versorgerinnen – Arbeitsmigration von Frauen in Deutschland’, Migrationsgeschichte in Bildern. Verfügbar unter: https://domid.org/news/die-versorgerinnen-arbeitsmigration-von-frauen-in-deutschland/ (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (2025b) ‘Hörspiel: Wenn der Damm bricht. 50 Jahre Streik bei Ford in Köln’, Digitalangebot. Verfügbar unter: https://domid.org/news/hoerspiel-wenn-der-damm-bricht-50-jahre-streik-bei-ford-in-koeln/ (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (2025c) ‘„Vertragsarbeiter“ in der DDR’, Migrationsgeschichte in Bildern. Verfügbar unter: https://domid.org/news/vertragsarbeit-in-der-ddr/ (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

de Haas, H. (2014) ‘What Drives Human Migration?’, in Migration: A COMPAS Anthology. Oxford: COMPAS. Verfügbar unter: https://heindehaas.org/wp-content/uploads/2015/05/de-haas-2014-what-drives-human-migration.pdf (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Mattes, M. (2019) ‘“Gastarbeiterinnen” in der Bundesrepublik Deutschland’, Bundeszentrale für politische Bildung, 8. April. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/289051/gastarbeiterinnen-in-der-bundesrepublik-deutschland/ (Zuletzt abgerufen: 13. Juli 2025).

Rieder, M. (2019) ‘Gastarbeiter’, Historisches Lexikon Bayerns, 26. Juni. Verfügbar unter: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Gastarbeiter (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Saoub, E. (2024) ‘Die Gastarbeiterprogramme der ARD – Integration durch Radio?’, SWR Kultur, 25. Oktober. Verfügbar unter: https://www.swr.de/swrkultur/wissen/die-gastarbeiterprogramme-der-ard-integration-durch-radio-104.html (Zuletzt abgerufen: 14. Juli 2025).

Stange, J. (2025) ‘Die wilden Streiks von 1973 – Wie “Gastarbeiter” für faire Behandlung kämpften’, SWR Kultur, 13. Juli. Verfügbar unter: https://www.swr.de/swrkultur/wissen/die-wilden-streiks-von-1973-wie-gastarbeiter-fuer-faire-behandlung-kaempften-102.html (Zuletzt abgerufen: 15. Juli 2025).

Vũ Vân Phạm (2024) ‘Vertragsarbeiterinnen in der DDR: Frauen aus Vietnam im Blick’, Bundeszentrale für politische Bildung, 17. Mai. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/548449/vertragsarbeiterinnen-in-der-ddr/(Zuletzt abgerufen: 15. Juli 2025).


 
 
 

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Deutsch - Judith B.-E.
English - Hannah P.
Italiano - Alessia C.
Türkçe - Lara S.

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